500 Jahre Freistaat Drei Bünde im Wandel des Demokratieverständnisses

Am 23. September 1524 schlossen sich der Gotteshausbund, der Graue Bund und der Zehngerichtenbund mit einer auf Pergament geschriebenen Urkunde, dem Bundsbrief, zum Freistaat der Drei Bünde zusammen und bekräftigten und verstärkten so ihre Zusammenarbeit. Unter dem Motto «Drei Bünde fürs Leben» feiert der Kanton dieses 500-Jahr-Jubiläum an verschiedenen Orten, in allen Talschaften und Sprachregionen zusammen mit der Bevölkerung. Die Regierung lädt Sie ein, dieses Jubiläum mit uns zu feiern. Mit der Gründung des Freistaats entstand des erste selbständige Staatswesen im Gebiet des heutigen Graubünden. Im Zentrum stand damals die Friedenssicherung, nach aussen durch militärischen Beistand bei Angriffen, nach innen durch eine ausgebaute Schiedsgerichtsbarkeit: Wenn zwei sich stritten, sollte der Dritte sich nicht freuen, sondern vielmehr schlichtend zur Stelle sein, so die Grundidee. In beeindruckender Kontinuität funktionierte dieser Freistaat mit seinem 1512 eroberten Veltliner Untertanengebiet bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.  Erst in der umfassenden Neuordnung Europas nach der Französischen Revolution und in den nachfolgenden Kriegen ging er in seiner bisherigen Form unter. Für kurze Zeit, von 1799 bis 1803, gehörte das Bündner Gebiet mehr oder weniger zur helvetischen Republik, also zur damaligen Schweiz. Die Helvetische Republik war ein Versuch gewesen, die Schweiz zentralstaatlich zu organisieren – was nicht funktionieren konnte. Napoleon Bonaparte, damals Erster Konsul der Französischen Republik und bestimmende Figur auch im helvetischen Satellitenstaat, erkannte dies und erliess nach Beratungen in Paris die Mediationsverfassung, die 1803 in Kraft trat. Damit wurde Graubünden zu einem Kanton des damals noch lockeren eidgenössischen Staatenbundes. Zusammengefasst: Seit 500 Jahren besteht auf dem Gebiet Graubündens eine staatliche Einheit mit einer beeindruckenden Kontinuität. Von Beginn an hatte sie basisdemokratische Züge, alles und jedes musste den rund 50 Gerichtsgemeinden zur Entscheidung vorgelegt werden. Dies sorgte für langwierige Entscheidungsprozesse, die in vielen benachbarten straffer organisierten monarchischen Staaten verständnisloses Kopfschütteln auslösten. Heute hingegen faszinieren die frühneuzeitlichen Demokratiemodelle. In den kürzlich vom Staatsarchiv online gestellten Protokollen des Bundstags, der höchsten Instanz des Freistaates der Drei Bünde, lässt sich die Entscheidungsfindung im Freistaat detailliert nachvollziehen

Das Demokratieverständnis in der Schweiz ist auf der Grundlage ihrer Tradition hoch. In kaum einem anderen Land hat das Volk so viele Mitbestimmungsrechte wie in der Schweiz. Wir diskutieren eine Vielzahl von Herausforderungen und entscheiden bei Abstimmungen gemeinsam darüber, wie wir unser Staatswesen weiter entwickeln. Nicht nur in der Schweiz wird eine Demokratie, die auf den Prinzipien der Volkssouveränität und der Rechtsstaatlichkeit sowie den Menschenrechten beruht, als wohl beste Form der Regierung angesehen. Weltweit sehen wir jedoch eine Zunahme von autoritären Tendenzen und populistischen Bewegungen. Das Jahr 2024 ist zwar ein «Superwahljahr». In fast 80 Staaten mit einer Bevölkerung von 4.5 Milliarden Menschen sind Wahlen und Abstimmungen geplant. Gewählt wird unter anderem in bevölkerungsreichen Ländern wie Indien, Pakistan, Indonesien, den USA und Mexiko sowie in einigen Ländern der Europäischen Union. Ich wage aber zu bezweifeln, dass diese Wahlen überall zu einem Siegeszug der Demokratie werden. In vielen Ländern ist die Demokratie durch politische Polarisierung, Desinformation in den Medien und den Einfluss von Geld auf die Politik stark gefährdet.

Bei uns bestand bereits im Freistaat eine lebhafte, ja leidenschaftliche politische Streitkultur, die uns geprägt hat. Heute leben wir diese Kontinuität aus 500 Jahren durch basisdemokratische Werte und Rechte wie die Meinungsfreiheit und die direkte Mitbestimmung. Tragen wir Sorge zu unserer politischen Kultur.

 

Gastkommentar von Regierungsrat Dr. Jon Domenic Parolini, erschienen am 8. April 2024 im Bündner Tagblatt.

 

Bild: Übergabe der Mediationsakte durch Napoleon. Weil die Bündner sich weigerten, den Untertanengebieten mehr Selbständigkeit zuzugestehen, kam es 1797 zum Bruch. Die Bündner liessen zwei Ultimaten verstreichen, die Napoleon ihnen gesetzt hatte, um eine Einigung zu erzielen. Die Franzosen besetzten Graubünden und integrierten das Gebiet in die Helvetische Republik. Mit der Mediationsakte von 1803 wurde Graubünden ein Kanton in der Eidgenossenschaft. Rätisches Museum.